Elisabeth Schraut

 

Ausstellungseröffnung Dao Droste diesseits – jenseits

In Schloss Neuenbürg am 27.8.2006

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Dao,

 

schon lange beschäftigt sich die Künstlerin Dao Droste mit den grundlegenden Fragen menschlichen Seins – und dies ganz besonders in ihren Installationen. Zwar hat sich die Künstlerin auch in anderen künstlerischen Gattungen, der Malerei, der Plastik ausgezeichnet, hat Collagen und Videos produziert. Doch gelingen ihr, so meine persönliche Auffassung, die eindringlichsten ästhetischen Formulierungen ihrer Fragen in ihren großen Boden -Installationen.

 

Wenn wir – wie Sie es alle soeben getan haben – in die Tiefe des Neuenbürger Schloßkellers hinabsteigen, so ist dies nicht nur ein Akt der Muskelkraft, sondern zugleich ein symbolischer Akt: Sie lassen die geschäftige, ja hektische Alltagswelt hinter sich und begeben sich in eine neue Welt, die andere Erfahrungen bereithält.

 

Auf dem Boden des mit seiner Patina den Atem der Zeit und der Vergänglichkeit evozierenden Kellergewölbes mit seinem leicht modrigen Geruch sind zwölf Kreise mit je sieben Büsten angeordnet, gleichförmig, wiederkehrend, Büsten aus gebranntem Ton, braun die Köpfe, silbrig-schwarz die Schulterpartie.

 

Auf den ersten Blick sind alle gleich. Dann entdecken wir Unterschiede, eine Vielfalt in der Einheit. Tatsächlich, jede Büste ist anders, in ihrem Gesichtsausdruck, in ihren Schrunden – ein menschliches Individuum. Die Menschen sind verschieden, so die Botschaft, und doch sind sie alle gleich. Wie in ihren früheren Installationen Open-mindedness 1999 und terra cantans 2001 benutzt Dao Droste auch in dieser Installation diesseits jenseits die Verfahren der Vervielfältigung und Reihung. Es kommt jedoch eine neue Dimension hinzu:  die Personen treten in Beziehung zueinander. Während bei Open-mindedness Gesichter/Antlitze und bei bei terra cantans vollrunde Köpfe, scheinbar beziehungslos nebeneinander lagen, sei es auf dem Boden einer Krypta oder im welken Laub eines Parks (wie im Goetheinstitut Nancy), so versammeln sie sich hier in einer Gruppe, bilden eine Gemeinschaft. Massenhaft reproduziert sind hier nicht die Gesichter oder Köpfe, die Individuen, sondern aus mehreren Individuen bestehende Zirkel. Sie blicken sich an, sie kommunizieren. Ihrer Anordnung um einen symbolischen runden Tisch können wir entnehmen, daß sie gleichwertig sind, sie gleich viel zu sagen haben. Es gibt keine Hierarchien, weder innerhalb der einzelnen Gemeinschaften noch zwischen den Gemeinschaften selbst.

 

Wer hat sich hier versammelt ? Zu welchem Zweck ?

 

Je genauer man hinschaut, desto größer die Irritation: zweifellos handelt es sich um menschliche Köpfe, doch alle haben Verletzungen, nicht kleine Schrammen, Schnitte oder Dellen, nein, tiefe Einschnitte wohl älteren Datums, die auffällige Narben zurückließen, und vor allem : alle, ausnahmslos alle haben ein mehr oder weniger großes Loch in der Schädeldecke. Haben wir uns in ein Totenreich verirrt ? In einen Traum ? Eine Vision ? Soll hier auf ein Gewaltverbrechen aufmerksam gemacht werden – oder sind diese Schädelöffnungen eher metaphorisch zu verstehen – als Möglichkeit der Transzendenz aus dem Irdischen ? denn Friede und Ruhe geht von den Kreisen aus.

 

Um welche Realität geht es hier ?

 

 „diesseits – jenseits“ hat die aus Vietnam stammende Künstlerin Dao Droste ihre Installation  hier im Neuenbürger Schloßkeller benannt.

 

„diesseits - jenseits“, das meint zunächst eine Lokalisierung, einen Ort: auf der einen Seite, auf der anderen, der gegenüberliegenden Seite. Wir verwenden in unserem heutigen Sprachgebrauch diese beiden Worte im Alltag vor allem dann, wenn wir einen Ort auf der einen oder anderen Seite eines Flusses oder eines Gebirges bezeichnen wollen: diesseits des Rheins, jenseits der Alpen. Zwischen beiden Orten steht in jedem Fall eine Grenze, wenn nicht eine natürliche, dann eine von Menschenhand gezogene, z.B. eine politische Grenze, „jenseits des Grenze“. Doch gehört dieser Sprachgebrauch je länger je mehr der gehobenen, der literarischen Sprache an, nicht zuletzt wegen des darauffolgenden Genitivs, der aus dem gesprochenen Deutsch langsam zu verschwinden scheint.

 

Doch in der substantivierten Form, das Diesseits, das Jenseits behaupten sich beide Begriffe. Noch immer bezeichnen sie Orte, die durch eine Grenze von einander geschieden sind, Orte freilich, die sich so genau nicht lokalisieren lassen. Es sind Bezeichnungen für Sphären, bei denen die konkrete Geographie keine Rolle spielt und die Grenze im Reich des Immateriellen angesiedelt ist, eine Begrifflichkeit also, die der Weltanschauung, der Philosophie, der Religion zugehört.

 

Das Diesseits ist noch einfach zu übersetzen; es bezeichnet die irdische Welt; das Jenseits- die andere- ist je nach Glauben und Weltanschauung benannt: Ewigkeit, Himmelreich, Überwelt, Unterwelt, Gottesreich, die ewigen Jagdgründe. Die Grenzlinie ist in der Regel der Tod.

 

Dieser zunächst räumlich verstandenen Grenze wird – in manchen Glaubensüberzeugungen, z.B.  im christlichen Denken – eine zeitliche Dimension zugesellt. Das Diesseits ist endlich, das Jenseits unendlich, ewig. Viele Religionen gehen von einer solchen Dualität der Wirklichkeiten aus, die Grenzziehungen freilich folgen sehr unterschiedlichen Auffassungen. Am deutlichsten lassen sich diese in den Bestattungsriten und im Ahnenkult festmachen.

 

In Vietnam, der Herkunft der Künstlerin Dao Droste, spielt der Ahnenkult eine zentrale Rolle. Demgegenüber sind Glaubensrichtungen oder weltanschauliche Überzeugungen von untergeordneter Bedeutung. Grundlegend für die vietnamesische, von Taoismis und Buddhismus geprägte Gesellschaft ist es, daß die Verstorbenen mit den Lebenden eine Einheit bilden. Auch im Christentum gibt es ja die Überzeugung von einer Gemeinschaft der Lebenden und der Toten; die Formen des Totengedenkens und der Ahnenverehrung sind freilich sehr verschieden.

 

Nach vietnamesischer Auffassung und Praxis ist die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten nicht abstrakt oder im geistig-spirituellen Raum angesiedelt; vielmehr nimmt der Verstorbene weiterhin aktiv am Familienleben teil. Er ist stets präsent. In nahezu jedem Haus, jeder Wohnung gibt es einen Ahnenaltar. Dieser ist der wichtigste Platz des Hauses. Auf ihm stehen Fotografien der Verstorbenen. Zu wichtigen Anlässen, wie Hochzeit , Geburt oder Tod werden den Toten kleine Opfergaben wie Räucherstäbchen, Obst oder Blumen gebracht. Ganz besonders wird der Jahrestag eines Verstorbenen begangen. Die Lebenden haben gegenüber dem Verstorbenen feste Verpflichtungen. Der Ahne muß geehrt werden, man muß ihm Respekt und Ehre erweisen. Bei wichtigen Familienangelegenheiten wird er befragt; er sitzt mit am Tisch, nimmt an der Familienkonferenz, die über wichtige Fragen entscheidet teil. 

 

Nach vietnamesischer Überzeugung ist das Leben ein sich immer erneuernder Prozeß, zu dem auch der Tod gehört. Dementsprechend verläßt der Verstorbene die Lebenden nicht, er wechselt nur in eine andere Existenzform über, und dann beginnt alles von Neuem. Die Grenzlinie zwischen diesseits und jenseits – so scheint mir - ist nicht sehr scharf gezogen. Das Leben wird als Kreislauf gesehen – und so hat der Kreis, in dem Dao Droste die Büsten angeordnet hat, eine weitere Bedeutung.

 

Doch es wäre zu kurz gegriffen, zu glauben, daß Dao Droste uns hier in erster Linie mit den Riten und Überzeugungen ihres Herkunftslandes vertraut machen wollte, auch wenn sie ihre persönlichen Vorstellungen bis heute entscheidend prägen.

 

Die Frage nach Leben und Tod, nach Werden und Vergehen, ist eine, wenn nicht die existentielle Frage der Menschheit, eine der Fragen, der sich jeder und jede stellen muß, jenseits seiner kulturellen Zugehörigkeit/ Prägung, ganz individuell.

 

In ihren Installationen stellt Dao Droste diese Fragen jedes mal aufs neue, und findet jedes Mal einen neuen Weg der Annäherung, des Ins-Bild-Setzens, ganz im Sinne Rilkes:

 

„Alle Dinge sind ja dazu da, damit sie uns Bilder werden in irgendeinem Sinn. Und sie leiden nicht dadurch, denn während sie uns immer klarer ansprechen, senkt unsere Seele sich in demselben Maße über sie.“

 

Die letzten Geheimnisse kann man nicht rational erfassen, man kann sie nur umkreisen - das gilt für die Künstlerin wie auch für die Besucher, denen sie mit Ihrer Arbeit diese Möglichkeit eröffnet. Jeder muß seine eigene individuelle Wahrheit, seine Antwort finden.

 

Und in der Tat: Die hier gezeigte Installation „diesseits – jenseits“ läßt sich ganz individuell erfahren, von verschiedenen – im konkreten räumlichen, denn die Installation ist begehbar, ja sie muß betreten werden, Standpunkten heraus, aus jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln, aus individuellen Befindlichkeiten wie kulturellen Prägungen heraus –  erschafft sich jeder Betrachter, jede Betrachterin seine eigene Erfahrung, sein eigenes Kunstwerk – und findet so zu seiner eigenen Antwort, zu sich selbst.

 

„diesseits – jenseits“ stellt die Frage nach dem Woher und Wohin, nach Werden und Vergehen.

 

 

 

Dieses ursprüngliche Spannungsfeld von Werden und Vergehen führt uns an den Beginn der abendländischen Philosophie, z.B. zu dem griechischen Naturphilosphen Anaximandros vom Milet (ca. 611 – 546 v.Chr.)

 

„Der Ursprung der seienden Dinge ist das Unbegrenzte/

Aus welchem die seienden Dinge ihre Entstehung haben/

dorthin findet auch ihr Vergehen statt,

wie es gemäß der Ordnung ist.“

 

oder  - ich mache eine großen Sprung - in den Worten von

 

Lao-tse, Vers 16 au dem Tao Te King

 

 

„Vom Ewigen

Erreiche die große Leere

Bewahre die tiefe Stille

Alle Dinge entstehen und vergehen

Betrachte ihre Wiederkehr

Alles kehrt zum Ursprung zurück

Die Rückkehr zum Ursprung ist Stille

Dies ist der Weg der Natur

Der Weg der Natur ist ewig...“

 

(Übersetzung von Bodo Kirchner)

 

 

Die Installation „diesseits –jenseits“ wird zudem mit Klängen untermalt, die die Stille des Raumes, die noch bewußter machen und zugleich das Thema der Arbeit noch einmal in ein anderes Medium umsetzen.

 

Bei Stille (!) ist zunächst ein gleichmäßiger Ton zu vernehmen, der Schlag eines menschlichen Herzens, Symbol des Lebens, es folgen Gongschläge, die nachhallen und schließlich Gebetsfetzen aus einem Abschiedsritual, dann wieder Gongschläge... von Ferne das Zwitschern der Vögel: alles beginnt erneut, der Kreislauf der Natur ... Werden und Vergehen, Werden und Vergehen, seit Urzeiten immer wieder immer wieder immer wieder ....

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2006 Elisabeth Schraut